Venedig Biennale 2019

May you live in interesting times

„Mögest Du in interessanten Zeiten leben!“ Mit diesem Sinnspruch, der auf rosa-gelbfarbenen an allen Ecken und Enden in Venedig verteilten Plakaten prankt, werden die Venezianer und ihre Gäste bis Ende November auf die Kunstbiennale 2019 eingestimmt. Der amerikanische Kurator Ralph Rugoff hat sich diesen Titel für die 58. Esposizione Internazionale d’Arte oder einfacher Biennale d’arte di Venezia ausgedacht. Zu seiner Ausstellung im Arsenale und im Haupthaus in den Giardini hat er 78 Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt und allen Altersklassen eingeladen.

In seinem Vorwort zur Biennale umreißt Ralph Rugoff, was den Besucher der Ausstellung erwarten wird.  Für ihn kann „auf indirekte Weise die Kunst vielleicht eine Art Leitfaden sein, wie man in „interessanten Zeiten“ lebt und denkt. … Die 58. Internationale Kunstausstellung wird kein eigenes Thema haben, sondern einen allgemeinen Ansatz für das Kunstschaffen hervorheben und einen Blick auf die soziale Funktion der Kunst werfen, wie sie Genuss und kritisches Denken umfasst. Im Mittelpunkt der Ausstellung stehen Arbeiten von Künstlern, die bestehende Denkgewohnheiten hinterfragen und unsere Lesarten von Objekten und Bildern, Gesten und Situationen öffnen.“

Lara Favaretto lässt Nebelschwaden vom Dach runterwabbern. Dass sich ein Spektakel ankündigt, erahnt man somit schon vor dem Betreten des Hauptpavillons. Im Laufe der Biennale, wenn die Tage heißer werden, wird die kühl-feuchte Dauerberieselung sicher noch angenehm werden. Aber zur Eröffnung wollten die Frauen, die sich daneben in der endlosen Schlange zur Damentoilette anstellten, sich nicht länger vom Wasserdampf einnässen lassen und suchten das Weite. Ob die vom Pavillondach verbreitete Nässe auf Dauer den Gemälden und Fotografien gut tut, die doch in beträchtlicher Zahl vorhanden sind, wird sich noch herausstellen.

Das Jahrmarktsgefühl im Inneren des Hauses wird durch die drangvolle Enge der angehäuften Kunstwerke noch verstärkt. Aber man kann durchaus seine Freude haben an der ausgestellten Kunst und der Wiedererkennungswert vieler Künstler ist doch relativ hoch. So hat doch Ralph Rugoff durchwegs auf international präsente Künstler gesetzt wie Rosemarie Trockel (1952) , Hito Steyerl, Jimmie Durham (1940), Michael Armitage, Stan Douglas (1960) und Danh Vo (1975), Cyprien Gaillard (1980), Jeppe Hein (1974).

Zumindest die Guerrilla Girls hätten ihre Freude an Ralph Rugoffs Ausstellung, kämpfen sie doch seit den 70er Jahren gegen Rassismus und Sexismus in der Kunstwelt. Es überwiegen nämlich die Frauen bei der Künstlerauswahl. Das ist insofern bemerkenswert, weil es nicht so oft vorkommt, dass Künstlerrinnen in Kunstinstitutionen überrepräsentiert sind. So gab es eine Studie, dass in den wichtigsten amerikanischen Museen zu 90 Prozent Kunstwerke von Männern hängen.

Ad Minoliti, Ulrike Müller, Anthea Hamilton: hohe Präsenz von Künstlerinnen auf der Biennale

„Die beste Ausstellung, die ich in den letzten zehn Jahren gesehen habe“, kommentiert ein bekannter Kurator eines niedersächsischen Museums die von Ralph Rugoff kuratierte Leistungsschau der Gegenwartskunst. In der Tat wird von dem gebürtigen New Yorker Ausstellungsmacher, der seit 2006 als Direktor der renommierten Hayward Gallery in London ist, viel geboten und für jeden ist was dabei.

Für den Homo ludens finden sich Kunstwerke wie ein zerschnittenes Motorrad von Alexandra Bircken, 1199 (2019), ein Miniaturstädtchen direkt aus dem Spielzeugeisenbahnkeller nach Venedig gebeamt von Alex Da Corte, The Decorated Shed (2019), eine große im Kreis fahrende Plastikkuh von Nabuqi, Do real things happen in moments of rationality? 2018), ein Riesengreifarm mit Gummilippe, der rote Farbe verspritzt und dann wieder zusammenkehrt von Sun Yuan und Peng You, Can’t Help Myself (2016).

Überall große bunte Ausstellungsstücke, überall klingelt und rattert es, es wird geschossen (Christian Marclay, 48 War Movies 2019) und es blitzt ( so warnt bei der Videoinstallation von Ryoji Ikeda vor Stroboskop-Effekten, die ja für Epileptiker und empfindliche Gemüter nicht so zuträglich sind ).

 

Auch für den Bastler und Handwerker gibt es vieles zu entdecken: Christine and Margaret Wertheim zeigen gehäkelte Korallen-Ensembles, die von einem Handarbeits-Kollektiv kreiert wurden. Von Yin Xiuzhen, Dong Fang Hong I (2014) gibt’s einen silberglänzenden kugelförmigen Satelliten. Ein Kabel und ein Stein an die Wand genagelt heißt „Works“ und ist von Gabriel Rico.

Margaret & Christine Wertheim, Biennale 2019

Wer es monomentaler mag: eine Riesenwand mit Stacheldraht drauf teilt den Raum. Es ist die Arbeit Mura Cuidad Juárez von Teresa Margolles, (2010), die Mauer, die Mexiko von den USA trennt.

Beeindruckend und nachdenklich sind die Fotografien des 1988 geborenen Inders Soham Gupta, Untitled from the series “Angst” (2013-17), die Menschen zeigen, die an Rande der Gesellschaft seiner Heimatstadt Kalkutta leben. In seinen Arbeiten, die zwischen Dokumentarfotografie, Kunst und dem geschriebenen Wort bewegen, beschäftigt er sich mit den Themen Einsamkeit und Isolation, Missbrauch und Schmerz, vernarbte Vergangenheit und unsichere Zukunft, sexuelle Spannungen und existentielle Dilemmata.

Soham Gupta, Biennale 2019

Untermauert wird der Eindruck der Künsterpromipräsenz auf der Biennale auch durch den ominösen K-Wert (auf der Grundlage der Präsenz der Künstler in der Öffentlichkeit wird den Konzentrationwert der Veranstaltung errechnet), den die Kunstdatenbank art-in ermittelt. Bei der Biennale 2019 liegt der Doppelt so hoch wie sonst auf den Biennalen so üblich.

Im Arsenale trifft man die selben Künstler wieder wie schon im Hauptpavillion, nur werden ihre Werke in einen Sperrholzbretter-Parcour etwas übersichtlicher präsentiert.

Präsenz der Großgalerien

Ralph Rugoff, der in London arbeitende New Yorker hat sich bei seiner Künstlerauswahl wohl auch von den Galerien seiner nächsten Umgebung inspirieren lassen. Um die dreißig ausgewählte Künstler und Künstlerinnen kommen aus Londoner oder New Yorker Galerien.

So stellt die Galerie White Cube (London, HongKong mit Büro in New York) in Ruguffs Ausstellung mit Julie Mehretu, Danh Vō, Christian Marclay, Michael Armitage, Liu Wei fünf Künstler und noch zwei weitere in den nationalen Pavillons von China (He Xiangyu) und Ghana (Ibrahim Mahama). White Cube ist 9 Minuten mit dem Auto von der Hayward Gallery entfernt. Zur Galerie Sprüth Magers vertreten mit fünf Künstlern (George Condo, Cyprien Gaillard, Rosemarie Trockel, Jon Rafma, Kaari Upson) sind es 12 Minuten.

Die Marian Goodman Gallery (New York, London) ist mit Baghramian, Vō, Leonor Antunes, Kemang Wa Lehulere, die sie sich mit Kurimanzutto teilt und Julie Mehretu (auch White Cube) vertreten .

Von den New Yorker Galerien Gavin Brown´s Enterprise (Avery Singer, Ed Atkins, Arthur Jafa, Frida Orupabo) und Andrew Kreps (Darren Bader, Hito Steyerl, Michael E.Smith , Xiangyu – der auch bei White Cube ist), Gladstone (New York, Brüssel) kommen vier Künstler (Gaillard, Trockel, Cameron Jamie, Ian Cheng).

David Zwirner (New York) hat drei Künstler ( Njideka Akunyili Crosby, Carol Bove, Stan Douglas) und die 303 Gallery (New York) auch drei Künstler auf der Biennale.

Allerdings ist der Spitzenreiter mit sechs auf der Biennale vertretenen Künstler die Galerie Kurimanzutto aus Mexiko City. Und die hat mittlerweile auch einen Ableger in New York.

Ibrahim Mahama, „A Straight Line Through The Carcass of Historie 1649“

Grenzwertige Kunst

Die Vormachtstellung der Großgalerien scheint auf den ersten Blick etwas zurückgedrängt. So hat die Mega-Galerie Gagosian keinen Künstler im Rennen und die Galerien Pace und Hauser & Wirth nur einen. Die allerdings mit Christoph Büchels „Werk“ Barca nostra ein äußert umstrittenes Kunstprodukt ausstellen. Der Künstler ließ das Schiffswrack, in dem 2015 Hunderte von Flüchtlingen im Mittelmeer ums Leben kamen, vor den Ausstellungshallen des Arsenale vor Anker legen. Büchel hat ihm den Titel Barca nostra gegeben, in seinen Augen ist es unser Boot, unser Wrack, unsere Schande. Auf Nachfrage erklärt ein Galeriemitarbeiter in Zürich, dass Christoph Büchel den Sinn seiner Aktion darin sieht, eine Diskussion zum Thema Umgang mit Flüchtlingen anregen zu wollen. Was ihm durchaus gelungen ist.

„Zum Kotzen. Dieses Bild (Eva und Adele posieren vor dem Bootswrack) verfolgt mich immer wieder. Es zeigt die zynische und rücksichtslose Logik sensationeller Ausstellungen, in denen politische Korrektheit und Marketingstrategie über Ethik, Forschung und Sensibilität bestimmen. Wie hätte man eine Sekunde lang denken können, dass es eine gute Idee war, dieses Boot (800 Menschen starben darin im Jahr 2015) zur Biennale in Venedig zu bringen? Es in einen westlichen Fetisch und einen Selfie-Spot zu verwandeln.“ Dieser FaceBook-Kommentar von Vicent Honoré wurde über Hundertmal geteilt und kommentiert.

Ähnlich empört äußert sich Patrick Schabus auf Facebook:

„Diese Ausgabe der Biennale von Venedig ist grausam, es ist unethisch, wichtige Werke zu mindern, indem man etwas daneben stellt, das nie zu einem Kunstwerk hätte erklärt werden dürfen.“

Diese Kommentare zeigen wie schwierig die Gradwanderung ist zwischen engagierter politischer Kunst und Betroffenheitskitsch.

Mit seinem schon etwas älteren Essay „Kunst und Flüchtlinge: Ausbeutung statt Einfühlung“ liefert Wolfgang Ulrich einen lesenswerten Einwand gegen diese Ästhetik des guten Gewissens.

Vielleicht sollte man sich an der Stelle auch daran erinnern, dass im Arsenal, wo das Flüchtlingsboot aufgebahrt ist und wo jetzt die Kunst zelebriert wird, einst auch die großen Kriegsflotten des Venezianischen Reiches gebaut wurden. Für die Seeschlacht von Lepanto im Krieg gegen die Türken wurden im Arsenal im Jahre 1570 innerhalb von zwei Wochen 100 Galeeren gebaut und in die Schlacht geschickt. Nach fünfeinhalb Stunden Kampf sind mehr als 30.000 gegnerische Soldaten getötet worden. Am Ort der Kriegsmaschinenproduktion der Kunst zu huldigen, damit hat das Kunstpublikum offensichtlich keine Probleme.

Text: Marianne Kapfer

Fotos: Gabor A. Nagy, Marianne Kapfer